Direkt zu den Inhalten springen

„Der Hilfsbedürftige ist der eigentliche Experte“

Selbstbestimmt Leben im Alter: Klingt gut, wie aber wirkt sich diese Vorgabe in der Praxis aus? Wir haben Martin Telser gefragt, der gemeinsam mit Direktorin Iris Cagalli federführend bei der Ausarbeitung dieses neuen Ansatzes in der Altenbetreuung war.

Annenbergheim Latsch: Herr Telser, wie kam es dazu, dass das Annenbergheim Latsch das erste Altersheim in Südtirol wurde, in dem das Konzept des selbstbestimmten Lebens zum Leitbild wurde?

Martin Telser: Die ersten Vorgespräche mit Direktorin Iris Cagalli hat es bereits 2009 gegeben, realisiert wurde das Konzept dann etwa zwei Jahre später. Das Konzept stammt aus der Behindertenbetreuung und wurde in den 1970er-Jahren zum ersten Mal in den USA umgesetzt. Das Konzept nannte sich dort „Indipendent Living“ und wurde von Ed Roberts in Kalifornien konzipiert.

Annenbergheim Latsch: Worin besteht das selbstbestimmte Leben im Alter nun konkret?

Telser: Letztlich geht es darum, den Senioren ein großes Maß an Selbstständigkeit und Unabhängigkeit zuzugestehen. Die Menschen sollen auch im Alter nicht bevormundet werden. Es handelt sich schließlich immer um unterschiedliche Individuen mit unterschiedlichen Charakteren und Gewohnheiten.

Annenbergheim Latsch: Klingt einleuchtend, aber worauf kommt es bei der Umsetzung an?

Telser: Das Stichwort lautet meiner Meinung nach „Biografiearbeit“. Je nach Biografie des Bewohners kann auf dessen individuelle Bedürfnisse eingegangen werden und somit der strukturelle Ablauf garantiert werden. Dies betrifft die einzelnen Bereiche wie Essensausgabe, Raumgestaltung usw. Letztlich ist der hilfsbedürftige Mensch der eigentliche Experte. Sie bzw. er kennt sich und seine Bedürfnisse am besten und kann dies in Absprache mit den Angehörigen und dem Pflegepersonal auch kommunizieren. Im gelebten Alltag heißt dies, dass die Seniorinnen und Senioren mehrmals täglich nach ihren Wünschen gefragt werden. Die Fragen „Was möchten Sie tun?“ und „Wie kann ich Ihnen helfen“ stehen im Vordergrund.

Annenbergheim Latsch: Die Forderung nach einem selbstbestimmten Leben betrifft demnach jeden einzelnen Bereich der Arbeit im Altenheim?

Telser: Das Konzept sollte bestmöglich sämtliche Bereiche umfassen. Das beginnt bei den unterschiedlichen Tagesabläufen. Wann möchte jemand aufstehen? Wie und wo möchte man frühstücken? Es geht darum, dass Menschen unterschiedliche Bedürfnisse und Wünsche haben und wir es ihnen so gut es geht ermöglichen möchten, eine bestimmte Eigenständigkeit aufrecht zu erhalten. Ich möchte mir im Alter auch nicht vorschreiben lassen, wie ich mein Zimmer gestalte oder wann und wo ich meine Mahlzeiten zu mir nehme.

Annenbergheim Latsch: Und auch sonst reden die Bewohnerinnen und Bewohner mit…?

Telser: Sicher. Das geht so weit, dass auch bei gewissen Ankäufen zuerst nach der Meinung der Bewohner gefragt wird: Welche Farbe sollen unsere Wände bekommen, welches Muster soll die Bettwäsche haben, wie soll der Garten beschaffen sein, welche Pflanzen sollen ausgewählt werden? Dazu hängen die Senioren ihre eigenen Bilder an die Wände, nehmen ein Bad, wenn sie das wollen, und bestimmen, ob ihr Frühstücksei hart oder weich sein soll, welche Lieder mit den freiwilligen Unterstützern gesungen werden oder ob die Reinigungsfrau später wieder kommen soll, wenn die Bewohner Zeit haben. Das funktioniert übrigens nur, wenn alle mitmachen, also auch der Hausmeister oder die Köchin. Sie dürfen nicht beleidigt sein, wenn sie ohne Absprache mit den Heimbewohnern den Speisesaal dekorieren und das dann nicht gefällt.

Annenbergheim Latsch: Im Annenbergheim Latsch wird das Konzept nun gelebt, die Umsetzung hat also geklappt…

Telser: Ich glaube, dass dies vor allem der Direktorin und der Pflegedienstleisterin, den vielen aufgeschlossenen Mitarbeitern und dem Pflegepersonal zu verdanken ist, die gemeinsam daran arbeiten und bereits sind, sich stetig zu hinterfragen und ihr Tun zu reflektieren. In vielen Sitzungen und Gesprächen wurde gemeinsam an der täglichen Umsetzung des Konzepts getüftelt und dieses letztlich auf die bestehende Struktur übertragen und in den Alltag integriert. Das bedeutet, dass die Grundidee und Haltung vom gesamten Haus, vom Personal und vom Verwaltungsrat mitgetragen wird. Dieses Konzept kann nur funktionieren, wenn es sich um kein aufgesetztes Verhalten handelt, sondern um eine innere Haltung in Kombination mit ausgereiftem Fachwissen.

Annenbergheim Latsch: Was bedeutet dies für das Pflegepersonal, das schließlich langjährige Ausbildungen im Pflegebereich absolviert haben?

Telser: Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Hauses bedeutet es, dass sie sich trotz ihrer Ausbildung vielleicht manches Mal zurücknehmen müssen, um so besser auf die Wünsche und Bedürfnisse der Hilfsbedürftigen eingehen zu können. Und es bedeutet, dass letztlich auch die Dienstpläne angepasst werden müssen.

Annenbergheim Latsch: Wie zufrieden sind Sie mit der Umsetzung und wie geht es in Zukunft weiter?

Telser: Seit sechs Jahren haben wir hier ein funktionierendes Konzept. Es war natürlich nicht immer einfach und bedurfte wie schon erwähnt vieler Gespräche und Sitzungen. Nach wie vor finden Evaluierungen statt, in denen man immer wieder Anpassungen vornimmt oder neue Ideen in das Konzept einfließen lässt. Es handelt sich schließlich um kein abgeschlossenes Konstrukt, sondern um ein fließendes Gesamtkonzept. Letztlich kommen ja immer wieder neue Menschen ins Heim und für jede und jeden gelten andere Herangehensweisen, jeder Mensch hat unterschiedliche Bedürfnisse. Das Konzept kann nur funktionieren, wenn von unten nach oben gearbeitet wird und nicht umgekehrt. Und natürlich ist es absolut entscheidend, dass die Angehörigen in die Arbeitsabläufe einbezogen und über die individuelle Vorgangsweise aufgeklärt werden.